Am heutigen Abend wurde die „Arbeitsstelle Marcel Reich-Ranicki für Literaturkritik in Deutschland“ an der Universität Marburg eröffnet. Unter der Leitung von Professor Dr. Thomas Anz war auch Professor Dr. h.c. mult. Marcel Reich-Ranicki anwesend. Die Einführung der Arbeitsstelle wurde mit einer Stunde veranschlagt und es sollte eine anschließende Podiumsdiskussion stattfinden. Hier nun ein kurzer Bericht.
Das studentische Städtlein Marburg hat es wieder einmal geschafft und sich von ein paar Bürokraten überrennen lassen. Die Veranstaltung fand wie angekündigt im Hörsaal 005 des Hörsaalgebäudes in der Biegenstraße 14 statt. Um die Posse zu verstehen, muss man anmerken, dass der Hörsaal 005 circa Platz für 300 Leute bietet. Marcel Reich Ranicki wollten aber geschätzte 900 Personen sehen. Nun denn platzierte man sich ganz wie in einer Vorlesung auf sämtlichen freien Flächen des Hörsaals. Dies hatte zur Folge, dass die Außentemperatur von 28 Grad auf gefühlte 40 Grad stieg und alle zu einer schwitzenden Masse verschmolzen. Der Unmut der Gäste war nur all zu verständlich, wenn man bedenkt, dass zwei Stockwerke über dem Veranstaltungsort der gut klimatisierte Audimax der Universität Marburg einen klimatisierten Sitzplatz für alle Anwesenden geboten hätte.
Als Marcel Reich Ranicki den Saal unterstützt von zwei weiteren Personen betrat, gab es stehende Ovationen. Professor Dr. Thomas Anz führte durch den Abend monologisierte den allergrößten Teil der ersten 30 Minuten, bis schließlich Marcel Reich Ranicki sich endlich selbst zu Wort meldete. Wie gewohnt schmetterte er sein „Aber“ ins Publikum und die ersten Spitzen saßen wie eh und je. Leider hielt dieser Zustand nicht lange an und man konnte förmlich zusehen, wie dem Neunzigjährigen die Kräfte schwanden. Gerade bei einzelnen Namen machte er kurze Pausen und füllte die Lücke mit schlichten Phrasen auf. Nun mag man mir gerne Vorwerfen, dass gerade Reich Ranicki dafür bekannt ist, dass er nur so mit Phrasen um sich wirft, aber es gibt einen Unterschied. Waren sie früher immer von Belang für seine vorbereiteten Treffer und Anmerkungen, so sollten sie an diesem Abend über das scheidende Genie hinweghelfen. Die Stimme wurde teils leiser und unverständlicher und die Menge wartete auf den nächsten Schlag des großen Entertainers.
Man möge mich an dieser Stelle bitte nicht falsch verstehen. Ich will nicht auf die schwindenden Kräfte eines alten Mannes eingehen, der sich übrigens für seine 90 Jahre sehr, sehr fit darstellte und dafür meine Hochachtung genießt. Viel mehr möchte ich den bitteren Beigeschmack beschreiben, denn ich hatte das Glück Herrn Reich Ranicki vor zehn Jahren schon einmal zu sehen. Es war gerade zu ein Schock für mich, den Unterschied so deutlich wahrzunehmen und im Nachhinein muss mich mir selbst, für meine völlig überzogene Erwartungshaltung, die Schuld geben.
Vielleicht hätte man es nach dem Fernsehpreisauftritt 2008 wirklich sein lassen sollen, vielleicht ist es auch jetzt noch gut, wie es ist, aber für mich ganz persönlich, war es eine bittere Schmierenkomödie, die Herrn Reich Ranicke sicherlich nicht zur Ehre gereicht hat.